Montag, 15. November 2010
ThespisAnders als bei den bisherigen Stücken ist das Bühnenbild beim Stück „Der Schneider von Inverness“ deutlich reicher. Der Hintergrund besteht aus einer Wand mit vielen grauen Kleidungsstücken, auf der linken Seite steht ein Arbeitstisch, in der Mitte ein Kleiderständer und auf der rechten Seite eine Kleiderpuppe. Schon beim Einlass sind im Zuschauerraum Geräusche von Scheren, Nähmaschinen und zerreißenden Stoffen zu hören. Als Metthew Zajac auf die Bühne tritt, kommt auch ein Geiger, Gavin Marwick, auf die Bühne. Dieser dient aber nur als eine Art Soundtrack für das Stück.
Mit zwei Personen, Vater und Sohn, die von Wölfen gejagt werden, wird das Stück direkt begonnen. Und sogleich wird diese Szene auch schon wieder unterbrochen und wir lernen einen älteren Mann, der ein Englisch mit einem schottisch‐polnischen Akzent spricht und völlig begeistert über seine Vergangenheit in Schottland spricht, kennen. Durch sein Engagement und durch glückliche Fügung konnte er ein kleines, aber erfolgreiches Unternehmen gründen. In seine Erzählung fügen sich immer wieder kurze Versatzstücke aus dem Krieg. Weiter erzählt der Schneider, dass er eine glückliche Kindheit hatte, obwohl die Schatten des 1. Weltkriegs noch über dem Dorf des Schneiders lagen. Beim Überfall der Deutschen auf Polen trat er der polnischen Armee bei, aber wurde, nachdem auch die Sowjetunion Polen eroberte, in die Sowjetunion nach Usbekistan verschleppt. Später konnte der Schneider über Persien, Ägypten und Italien, zu dieser Zeit wieder in der polnischen Exil Armee, nach Schottland gelangen und den Krieg überleben. Mehr gäbe es für ihn nicht zu erzählen.
Das Stück wird durch zwei kleine Episoden unterbrochen. In der einen wird ein Pole für das Deutsche Reich als Zwangsarbeiter eingesetzt, in der zweiten Szene ist diese Person Teil der „Roten Armee“. Ab diesem Punkt vermischen sich die Personen „Schneider“ und der Schauspieler Matthew Zajac. Dessen Vater hat eine entsprechende Biografie gehabt, die jedoch durch ein Foto in Frage gestellt wird. Auf diesem Foto ist sein Vater in einer Uniform der „Roten Armee“ zu sehen. Matthew Zajac beschreibt nun seine eigenen Recherchen, die viele verschiedene Biografien ein und der selben Person ergeben. Einige besser belegt, andere nicht. Zentral stellt sich heraus, dass Zajacs Vater verschiedene Dinge aus seiner Vergangenheit verheimlicht hat. Unter anderem eine Tochter aus erster Ehe, die in Polen geblieben ist.
Zajak spielt sehr professionell. Nie verliert der Zuschauer die Orientierung. Durch den geschickten Einsatz der Requisiten schlüpft er gekonnt zwischen den einzelnen Rollen hindurch. Dazu eine brillante Lichttechnik und der geschickte Einsatz der Musik. Alle Details scheinen zunächst unübersichtlich, fügen sich aber zu einem gesamten Bild zusammen. Gerade die Projektionen an die Wand der Kleidungsstücke unterbrechen nicht das Stück, sondern unterstützen den Zuschauer enorm. Die Leidenschaft, die Zajac auf die Bühne durch sein Spiel bringt, führt dazu, dass sich der Zuschauer zum einen mit seinem Vater identifizieren kann, ihn als positiven, freundlichen und ehrgeizigen Menschen empfindet, gleichzeitig auch die Schrecken und den Irrsinn des Krieges auf eine Person projiziert. So ist auf der Bühne nur noch eine Person notwendig, die eine lange, grauenhafte Zeit mit vielen Stationen für den Zuschauer in das Theater bringt. Bravo‐Rufe und minutenlanger Applaus zeigten, dass das Kieler Publikum mitgerissen wurde.
Dieses Jahr hat die Jury zwei besondere Anerkennungen ausgesprochen. „Mohammed is biking“ mit Daniel Ludwig hatte eine besondere Anerkennung verdient, so die Jury, weil seine lebendige und humorvolle Darstellung die komplexen Zusammenhänge zwischen erster und dritter Welt auf originelle Weise auf die Bühne gebracht habe. Viviana Souza Compagnoni habe mit dem Stück „Lulú“ Themen mit einer großen Intensität erforscht. Sie habe ihre Figur so intensiv verkörpert, dass auch diesem Stück eine besondere Anerkennung der Jury zugesprochen wurde.
„The Event“ habe auf intelligente Weise das Theater dekonstruiert. Durch seine sensible, selbstreflektierte und komisch‐ernste Darstellung habe David Calvitto den philosophischen Text als Portrait der Realität auf die Bühne gebracht. Es sei zum einen ein hoch theatralisches, aber zum anderen auch ein anti‐theatralisches Stück gewesen.
Dieses Jahr wurde der erste Preis geteilt. Zum einen hat ihn das Stück „Ode an die Liebe“ erhalten. Sein innovativer Zugang zu einer der ältesten Themen des Dramas, Liebe und Leid, habe Tuukka Vasama ein ungewöhnlich physisches und vokales Stück auf die Bühne gebracht. Die Nuancen einer Intimität transformierten den Text in eine körperliche Darstellung, so die Jury.
Der zweite erste Preis ging an „Die Reise nach Buenos Aires“ mit Gabriela Muskala. Es sei eine interessante, professionelle und sehr künstlerische Darstellung gewesen. Es zeige ein ganzes Leben in all seinen Facetten. Darüber hinaus zeige aber die Darstellung Muskalas die Gefühle der Schauspielerin in jedem Moment des Stücks. Dies war der Jury ein zweiter erster Preis wert.
Kiel wird durch dieses ungewöhnliche, aber sehr innovative Festival reicher. Gerade in der Vielzahl der Festivals im Bereich des Theaters findet sich zumindest in Deutschland kein Zweites, das diese Qualität, Vielfalt und Stile in eine Stadt bringt. Die Jury hat würdige Preisträger gefunden und man darf auf das Programm des nächsten Thespis Festivals hoffen, denn auch dann, da sind wir uns sicher, wird es ein ähnlich großartiges Programm geben.